Judith Brandner, Königstetten
Freund Ogino darf seine 98jährige Mutter nicht mehr besuchen. Er gibt bei der Rezeption des Altersheimes eine Portion Eiscreme für sie ab. Sie lebt auf der Demenzstation. Ihren Sohn erkennt sie schon lange nicht mehr. Ihre Leidenschaft für Eiscreme ist geblieben. Ogino ist nach Kyoto gekommen, um im Krankenhaus nach einer Knieoperation die Schrauben herausnehmen zu lassen. Ansonsten lebt er in Thailand. Jetzt aber hat Thailand die Grenzen dichtgemacht und lässt ihn nicht mehr zurückreisen. Sho ga nai, sagt er schicksalsergeben. Da kann man nichts machen.
Ein Farbholzschnitt von Tsukioka Yoshitoshi aus dem Jahr 1891 zeigt einen Mann, der seine alte Mutter auf dem Rücken einen Berg hinaufträgt. Es ist der Berg obasuteyama in der Präfektur Nagano, übersetzt „der Berg, auf dem die alte Oma weggeworfen wird“. Obasuteru, also die Oma entsorgen, bezeichnet den Brauch, die eigene Mutter auf den Berg zu tragen, dort auszusetzen und sie dem Hungertod zu überlassen, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht hat. Es ist eine alte japanische Legende, die in mehreren Varianten und immer wieder neu erzählt wird. Eine davon ist die Geschichte, dass die alte Mutter, während der Sohn sie auf dem Rücken hinaufträgt, die überhängenden Äste der Bäume erhascht und abknickt. Als sie oben angelangt sind, fragt der Sohn, warum sie das gemacht hat. „Damit du dich beim Zurückgehen nicht verirrst, mein Sohn!“, antwortet die Mutter. Da weinte er bitterlich und nahm sie wieder mit hinunter.
Im Elsass, so hört man in diesen Tagen, werden Patient*innen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen ab einem gewissen Alter nicht mehr beatmet. Sie bekommen eine Überdosis Schmerz- oder Schlafmittel.