Auf meiner Schreibtischlampe hängen zwei O-mamori. Immer wenn ich hier sitze – also täglich – sehe ich sie vor mir baumeln. Und immer wenn mein Blick darauf fällt, geht mir das Herz auf. Es sind kleine Säckchen aus orangefarbener bzw. grauer Seide mit goldenen Schriftzeichen und Ornamenten, verschlossen mit einem weißen, zu einer Masche gebundenen Bändchen. Ich habe sie vor langer Zeit von lieben Menschen in Japan bekommen, die mir auf diese Weise ihre Gefühle und ihre Wertschätzung ausgedrückt haben. Was in diesen Beutelchen drin ist, bleibt ein Geheimnis, denn man darf sie nicht öffnen. Auf jeden Fall ist es etwas Gutes, glückbringende Wünsche für Erfolg in Beruf oder Studium, sichere Geburt, Schutz im Straßenverkehr. Die schützende Hand der Götter. Und nun also auch der Schutz vor Corona. O-mamori sind, so höre ich, in Japan dieser Tage gefragter denn je. Am O-mamori zeigt sich der japanische Synkretismus: sowohl Shinto-Schreine als auch buddhistische Tempel verkaufen die Talismane. Eigentlich sollte man sie ein Jahr nach Erwerb oder Erhalt verbrennen, und neue kaufen. Meine hängen seit Jahren da und sie schützen mich noch immer. Es geht mir doch gut, inmitten dieses globalen Experiments, von dem wir noch nicht wissen, wohin es uns führt, und wofür es dient.
Und schon erzeugt die Angst vor der unsichtbaren Gefahr eine Kluft zwischen den einen, die den offiziellen Verlautbarungen blind vertrauen, und den anderen, die ihre Zweifel daran haben und kundtun. Schon vernadern die einen die anderen. Schon gibt es Streitgespräche in den eigenen Familien über das, was zu tun und zu lassen ist. Wir sind Laien auf dem Gebiet der Medizin und der Virologie. Wir sind Laien auf dem Gebiet der Radioaktivität. Wir müssen uns an die Expert*innen halten. Die Parallelen sind unübersehbar: Aus noch zu analysierenden Gründen tendieren wir zu den einen oder anderen Expert*innen. Die Corona-Angst ist schlimmer als das Virus selbst, hat der Chef der Luxus-Elektroautofirma gemeint. Die Angst vor der Radioaktivität ist schlimmer als die Strahlung selbst, hat ein hochrangiger Arzt in Japan Bedenken zu zerstreuen versucht. Vielleicht ist ja das Spiel mit der Angst ein Teil des Experiments.